Keine rationale Politik

Keine rationale PolitikDa wird Herr Brüderle aus einem Protokoll einer internen BDI-Runde vom 14. März 2011 – das ist übrigens der bewußte Montag, an dem alle Regierungsverantwortlichen ihre Haltung zur Atomkraft revidiert hatten – mit den Worten zitiert, daß das Atom-Moratorium den bevorstehenden Wahlen geschuldet, und politische Entscheidungen gegenwärtig nicht immer rational seien. Inhaltlich ist dies keine Sensation und steigert den Erkenntnisgewinn des Wählers ungefähr so, wie die Aussage, daß die Erde keine Scheibe sei. Dennoch stellen sich spontan zwei Fragen. Was ist der Grund für diese, von Politikern nicht zu erwartende Ehrlichkeit, und warum kommt diese Information erst zehn Tage nach der besagten BDI-Sitzung? Zur zweiten Frage: Das Protokoll war erst jetzt fertig oder die SZ kam erst jetzt in den Besitz des Protokolls. Oder wurde nicht vielmehr der ideale Zeitpunkt für die Veröffentlichung gewählt in dem die Nachricht noch ihre volle Wirkung entfalten kann, also nicht zu früh aber auch nicht zu spät vor den wichtigen Wahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz?

Die Beweggründe für Brüderles Ehrlichkeitsschub sind unklar. Vielleicht will er sich bei der Atom-Industrie anbiedern und ist auf der Suche nach einem lukrativen Posten mit zusätzlicher Altersversorgung. Vielleicht war es auch nur Dummheit oder Achtlosigkeit in der vermeintlichen Sicherheit eines geschlossenen Gesprächskreises hinter verschlossenen Türen. Im Ergebnis war die regierungsseitige Aufregung und der Spott der Opposition erwartungsgemäß.

Brüderles Dementi ließ dann auch nicht lange auf sich warten. Und da war sie dann wieder, diese Unglaubwürdigkeit eines Politikers der sich verbiegt, weil er in die Ecke getrieben wurde. Seine Erklärung: Er wurde falsch zitiert. Der politische-GAU scheint nun perfekt. Aber es kommt noch besser. Nur einen Tag später tritt Herr Dr. Schnappauf, BDI-Geschäftsführer, zurück, da er sich für die entstandene Indiskretion verantwortlich fühlt. Dieser Mann tritt sicher nicht zurück, weil er einen Fehler seines Protokollanten übersehen hat, sondern weil er sich der politischen Brisanz des Protokollinhalts an dieser Stelle nicht bewußt war. Damit dürfte es am Wahrheitsgehalt der zitierten Aussagen des Herrn Brüderle zu Atom, Moratorium und Wahlen keinen Zweifel mehr geben. Genau so wie seit Tschernobyl bekannt ist, daß Atomkraftwerke generell unsicher sind und Fukushima nur nochmals eine Bestätigung hierfür liefert, genau so haben wir durch Herrn Brüderle eine eindrucksvolle Bestätigung dafür erhalten was wir schon immer wußten, daß eine Vielzahl von Politikern die Wähler dreist belügen.

Frau Dr. Merkel hat in den vergangenen Monaten eine Reihe von schwerwiegenden Fehlentscheidungen getroffen. Auch in der Atomfrage wäre es besser gewesen statt eines dreimonatigen Moratoriums eine einfache Besinnungsphase einzuläuten in der die öffentliche Diskussion rund um das Thema Atomkraft neu angeregt würde. Am Ende der Diskussion hätte dann ein gemeinsamer, gesellschaftlicher Konsens zur Atomenergie stehen können. So sind jedoch die Zweifel nur noch größer geworden. Sind die Kernkraftwerke sicher? Folgt die Regierung allein den Interessen der Atom-Industrie? Werden wir weiterhin in diesem Punkt belogen?

So zucke ich jedesmal zusammen, wenn Frau Dr. Merkel einen ihrer Sätze mit den Worten »und ich sage« oder noch schlimmer »und ich sage ganz klar« einleitet. Dann weiß man, daß jetzt Halbwissen und Halbwahrheiten folgen. Es wäre schön, wenn Politiker – auch als Lehre aus den Vorfällen der letzten Monate – zukünftig mehr Wahrheit und Ehrlichkeit wagen würden. Zumindest als Experiment.
rh2011-03-009