Stille im Wartezimmer

Kleinstadt im nördlichen Emsland, Donnerstag, d. 14.02.2013, 10.37 Uhr, Wartezimmer einer Facharztpraxis. Das Praxisschild an der Eingangstür gab vor, daß hier insgesamt vier Ärzte tätig sein sollen. Zwar war das Wartezimmer voll, aber die Praxis schien nicht überlaufen zu sein. Es war eher ruhig, von Hektik keine Spur. Jemand betrat die Praxis.
»Moin, ich hätte gerne einen Termin bei Frau Doktor Heilmann.« Der Stimme nach zu urteilen war die Dame im fortgeschrittenen Rentenalter.
»Ja, einen Moment bitte.« sagte die junge medizinische Fachangestellte (MFA) auf der anderen Seite des Empfangtresens, die man übrigens bis Mitte 2006 auch einfach hätte Arzthelferin nennen dürfen. Es begann ein hektisches klappern auf der Computertastatur.
»Da kann ich Ihnen Montag, den 5. August um 9.45 Uhr anbieten.«
Plötzlich schien der Zeiger des Stille-Pegelmessers von sehr still auf totenstill abgesackt zu sein. Auch die, die vorher lasen oder sich leise murmelnd unterhielten horchten kurz auf. August. Dieser Monatsname ist unverwechselbar, man konnte sich nicht verhört haben. Ein Blick auf die schneebedeckten Dächer der Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite vermittelte einen Eindruck über die ungefähre Distanz von jetzt bis August. Genauere Auskunft darüber sollte eine Kalender-App für das iPhone geben: Genau 172 Tage.

Die Fragen, die sich spontan im Kopf entwickelten überdeckten die Wahrnehmung für den weiteren Verlauf des Gesprächs zwischen der Patientin und der MFA. Würde die Dame jetzt ein halbes Jahr leiden müssen? Hat sie niemanden, der sie in die Facharztpraxis des Nachbarortes fahren könnte? Wieviel würde ein halbes Jahr von Ihrer Restlebenszeit wohl anteilig ausmachen? War das gerade eine Vorschau auf das bundesdeutsche Gesundheitswesen im Jahre 2020?

Das verstörende an der Situation war wohl die Selbstverständlichkeit, mit der die MFA der alten Dame einen Termin nannte, der ein halbes Jahr in der Zukunft liegen würde. Vier Monate Terminvorlauf, so sollte im Wartezimmer gleich darauf zu hören sein, seien für Kassenpatienten in dieser Praxis normal. Aber sechs Monate würden doch schon die Grenzen des Erträglichen berühren, so die einhellige Meinung der Wartenden. Im gleichen Ort versuchte ein Allgemeinmediziner zwei Jahre lang einen Nachfolger für seine gut etablierte Praxis zu finden, ohne Erfolg. Er mußte seine Praxis zum 31.12.2012 schließen. Es ist offensichtlich so, daß wir am Anfang einer unaufhaltsamen aber progressiv an Fahrt zunehmenden Abwärtsentwicklung stehen. Entweder verfügten die für das Gesundheitswesen zuständigen Politiker in der Vergangenheit über die notwendige fachliche Kompetenz, dann fehlte ihnen aber meist das Durchsetzungsvermögen gegenüber Lobby und Opposition oder aber es fehlte ihnen an beidem. Das könnte sich bald bitter rächen.
rh2013-02-003