Powersellers Dream

Auf dem Grundstück des Autohauses einer asiatischen Importmarke entsteht gerade ein großer und gläserner Verkaufsraum. Die gröbsten Arbeiten scheinen abgeschlossen zu sein, denn die Pflasterer sorgen bereits dafür, daß Kunden und Interessenten demnächst ihre Fahrzeuge direkt vor dem neuen Ausstellungskomplex parken können. Das ganze strahlt Prosperität und Zuversicht aus. Die Volumenmodelle des Importeurs stehen, wahlweise in Silber oder Schwarz, wenige in Weiß, auf dem gesamten Areal verteilt. Obwohl die beiden Verkäufer ihren Geschäften vorübergehend in Bürocontainern nachgehen müssen, schmälert dies nicht das Gefühl des Vertrauens, das unseren Interessenten, nennen wir ihn Jürgen, überkommt. Von einem der beiden Verkäufer wird Jürgen vor den Containern entdeckt und mit der freien Hand gestikulierend, derweil die andere gerade telefoniert, aufgefordert sein Büro über die etwas versteckte seitliche Eingangstür zu betreten. Wie sich herausstellt ist er der Verkaufsleiter von beiden und soll im folgenden Marc genannt werden.

Marc trägt ein Crew-Blouson der Automarke und ist damit als Member des Autohauses sofort erkennbar. Während sich Jürgen und Marc noch ungefähr drei Schritte entfernt gegenüberstehen, versucht Marc das Ende des Kundengesprächs mit übertriebenen, flehenden Blicken zur Decke des Bürocontainers und ventilierenden Bewegungen der linken Hand zu beschleunigen. Der Kunde am anderen Ende der Leitung ist Marc offensichtlich lästig und bei Jürgen kommen erste Zweifel auf. Vielleicht ist er doch im Pausenraum der Mechaniker gelandet. Nachdem Marc das Gespräch beendet hat und beide an Marcs Schreibtisch Platz genommen haben, beugt sich Marc vor und fragt nach Jürgens Interesse. An dieser Stelle macht Jürgen einen entscheidenden Fehler, den er noch genau acht Tage lang bereuen wird. Er interessiere sich für einen Van, also einen Familienbus aus dem Premiumsegment der Angebotspalette ließ er Marc wissen.

Wie von einem Reflex gesteuert schlägt Marc mit der flachen Hand auf den Monitor vor sich. »So ein Ding«, teilt er seinem verdutztem Gegenüber mit und meint damit offensichtlich einen Computer oder Laptop, »hat heute doch jeder zu Hause stehen«. Durch den Stoß hat Marc den Monitor in heftige Schwingungen versetzt. Er läßt sich in seinen Bürostuhl zurückfallen und nimmt dabei für einen kleinen Moment völlig synchron die Nickbewegungen des Bildschirms auf, einer eigenwilligen Choreographie folgend. Nachdem Marc in seinem Stuhl ausgependelt und sich wieder ein kleines Stück nach vorne gebeugt hat, folgt sein unaufhaltsamer Vortrag. Seine vollständige Gleichung lautet: Monitor ist gleich Computer ist gleich Internet ist gleich schlechte Preise.

Powerseller
Powerseller
Der Vortrag besteht aus zwei Teilen. Teil 1 beschäftigt sich mit den Besonderheiten des Marktes im Automobilhandel. Da geht es um Automodelle, die für den deutschen Markt bestimmt sind und sogenannte EU-Fahrzeuge aus dem Internet. Letztere seien preislich zwar deutlich attraktiver, seien aber über den normalen Markenhandel nicht beziehbar. Außerdem verursachen diese Fahrzeuge immer wieder Probleme bei der Garantieabwicklung. Selbstverständlich könne auch er solche EU-Fahrzeuge besorgen, würde dies aber nur sehr ungern tun. Die Beschaffung des von Jürgen gewünschten deutschen Modells sei überaus schwierig, aber er würde schon von irgendwoher ein passendes Fahrzeug für ihn organisieren können. So, als suche er nach einer seltenen Schraube in seiner Werkzeugkiste. Im zweiten Teil seines Vortrags spielt Marc sich selbst. Er sorge dafür, daß sich der Fahrzeugbestand auf dem Hof möglichst schnell drehe. Selbst wenn der deutsche Importeur ihm wöchentlich acht Fahrzeuge auf das Grundstück kippte, würde das für ihn kein echtes Problem darstellen. Sogar Verkäuferkollegen anderer Autohäuser kämen zu ihm um sich bei ihm Rat zu holen. Genau wie er wollen auch sie erfolgreich Autos verkaufen. Marc wähnt sich als echter Powerseller und lehnt sich, mit sich und der Welt zufrieden, erneut in seinen Bürostuhl zurück.

Während Marc sich für den Macher hält ist Jürgen von sich selbst eher enttäuscht. Es wäre ihm nicht in den Sinn gekommen einen fremden Menschen, noch zudem auf fremdem Terrain, in seinem Redefluß zu unterbrechen. Dennoch blieb genug Zeit um seine drei oder vier Sachfragen abklären zu können. Dann fuhr er, ohne Prospekte oder eine erste Preisansage und mit dem Gefühl nicht systemkompatibel zu sein, wieder nach Hause. In den nächsten Tagen informierte sich Jürgen im Internet weiter über sein Wunschfahrzeug und stellte im Gegenzug sein eigenes Fahrzeug zum Verkauf dort ein. Er studierte dort die Preise und fand einen Verkaufspreis von 32 Talern im ersten Schritt als angemessen und durchaus wettbewerbsfähig.

Marc, der Powerseller, hatte auch Gelegenheit gehabt sich von dem hochwertigen Zustand des Autos zu überzeugen und versprach, sich ebenfalls nach Käufern umzusehen. Bereits nach zwei Tagen erhielt Jürgen aufgrund seines Inserats im Internet ein schriftliches Angebot über 28 Taler und nochmals zwei Tage später wurde das Fahrzeug zu einem Preis von 29 Talern und fünf Groschen verkauft. Marc hatte ebenfalls einen Käufer gefunden, der das Auto für 22 Taler kaufen wollte. Er war sehr stolz auf sich.

Marc ist der traurige Held dieser Geschichte. Verschiedene Eigenschaften und Qualifikationen fehlen ihm. Er verfügt über keinerlei Menschenkenntnis und es fehlt ihm das Handwerkszeug eines guten Verkäufers. Zudem schätzt er den Fahrzeugmarkt außerhalb seines Bürocontainers völlig falsch ein und geht dadurch mit dem Vermögen seiner Kunden sorglos um. In diesem Fall hätte er das Auto seines Kunden ca. 30 Prozent unter dem Marktwert vermittelt. Marc ist kein Verkäufer, er ist ein Verteiler. Marc verteilt die Volumenmodelle seines deutschen Importeurs an seine Systemkunden. Systemkunden wiederum sind die, die in sein Geschäft kommen, auf ein Fahrzeug zeigen und »den da« sagen. Der Systemkunde wird dann zur Kasse gebeten und Marc fährt schon mal den Wagen vor. Diesen Ablauf beherrscht Marc sehr souverain.

Natürlich hat Jürgen sein Wunschfahrzeug bei einem anderen Händler der Marke bestellt. Die Abwicklung lief halb im Internet halb per Telefon. Er hätte ungefähr 2 Taler und 5 Groschen mit einem EU-Neufahrzeug sparen können, aber er akzeptiert, daß die Autohändler eine kostenintensive Vertriebsstruktur unterhalten und leistungsfähige Berater und Verkäufer bezahlen müssen. Gute und motivierte Service- und Verkaufskräfte machen dem Kunden auch mehr Spaß. Marc tut das nicht.
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