Was sagt Gauck?

Das war fast absehbar. Erst eine völlig kopflose und überhastete Kandidatenwahl für das Amt des Bundespräsidenten, als hätte es gegolten in kürzester Zeit ein sinkendes Schiff zu evakuieren, und dann, da nun alle Passagiere in ihren kleinen Rettungsbooten in ruhiger See dahindümpeln und der Rauch verzogen ist, die Frage, ob man alles richtig gemacht hat. Die SPD und die Grünen haben ihren einzigen Kandidaten nach dem Motto nach der Wahl ist vor der Wahl gewählt. Die Linke agiert fast vergleichbar, aber mit umgekehrtem Vorzeichen: Was vor zwei Jahren falsch war kann jetzt nicht richtig sein. Beides gilt aber nur, wenn man alle äußeren Einflüsse unbeachtet ließe, Laborbedingungen sozusagen. Tatsächlich aber ist in den vergangenen zwei Jahren seit der letzten Bundespräsidentenwahl sehr viel passiert und Herr Gauck hat zu einigen Themen seine dezidierte Meinung geäußert. Dabei sind seine Äußerungen von der Öffentlichkeit durchaus wahrgenommen worden und fanden unterschiedlichen Anklang.

SPD und Grüne waren wohl über den nachträglichen Sieg ihres Traumkandidaten und der damit verbundenen Möglichkeit ihren politischen Gegner mit Häme zu überziehen scheinbar so geblendet, daß sie die vielen Äußerungen Gaucks und dessen Wirkung vollkommen ausgeblendet hatten. Ein führender Grünen-Politiker fabulierte die Tage in einer dieser Polit-Talk-Shows, daß Gaucks Äußerungen zu einem Zeitpunkt entstanden seien, an dem er nicht wußte, daß er doch noch Präsident werden würde. Herr Gauck ist mindestens seit 1989 in verschiedenen Ämtern eine öffentliche Person für Ost und West und somit wird er sehr wohl an seinen Äußerungen gemessen. Jetzt glauben die Parteien die Deutungshoheit über Gaucks Äußerungen zu haben. Sie versuchen dabei Gesagtes vor dem Hintergrund seiner Vergangenheit zu interpretieren und für die Öffentlichkeit so aufzubereiten, das doch noch Akzeptables dabei herauskommt. Herr Gauck ist allein verantwortlich für alles, was er sagt oder schreibt. Als zukünftiger Bundespräsident sollte er dabei für alle Menschen klar verständlich sein und keinen Platz für Interpretationen lassen.

Die Occupy-Wall-Street-Bewegung hat Gauck als »unsäglich albern« bezeichnet. Der nachgeschobene Erklärungsversuch, er habe dies vor dem Hintergrund eines verstaatlichten Bankenwesens der DDR gesagt, ist schwach. Mit einem Schlag hat Gauck weltweit tausende von meist jugendlichen Demonstranten beleidigt, die zum Teil bei bitterer Kälte Tag und Nacht in Zelten durchhielten und sich für ihre Überzeugung einsetzten.

Im Rahmen der Stuttgart-21-Proteste bezeichnete Gauck die Neigung der Deutschen zu Hysterie und Angst als »abscheulich«. Ein Verbrechen kann man abscheulich nennen oder man wendet sich mit Abscheu von einem Verbrecher ab. Aber das demokratische Recht der Bundesbürger, die letztendlich vor einem Milliardengrab warnen, mit diesem Adjektiv zu belegen, ist mehr als unfair.

Das Thilo-Sarrazin-Buch oder besser seinen Verfasser bezeichnete Gauck als »mutig«. Sarrazin hatte bereits als aktiver Politiker mit vielen undifferenzierten Äußerungen über Minderheiten regelmäßig Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Das Buch, entstanden in der sicheren Situation einer Altersalimentierung, ist nur die logische Folge seines bisherigen Handelns. Das hat mit Mut nichts mehr zu tun.

Gaucks lobende Worte zur Hartz-IV-Reform kommen ebenfalls unterschiedlich gut an. Er glaubt, daß Solidarität und Fürsorglichkeit faul machen kann. Das verunsichert die sozial schwächeren Gesellschaftsschichten. Sein Freiheitsbegriff ist geprägt von der Eigen-Verantwortung. Freiheit und Sicherheit schließen sich dagegen in seinem Gesellschaftsbild aus.

Den Begriff der Montagsdemonstrationen sieht Gauck einzig und allein belegt durch die Demonstrationen 1989 gegen das DDR-Regime. Die Benutzung dieses Begriffs zu anderen Zwecken, zum Beispiel für den Proteste gegen Sozialreformen, hält er für »töricht und geschichtsvergessen«. Das allerdings ist Politikfolklore in seiner reinsten Form. Die Menschen nutzen den Begriff heute wie eine Marke, was schon wieder einen Wert an sich darstellen könnte.

Auch zur Vorratsdatenspeicherung hat Gauck ein lockeres Verhältnis. Er sieht darin nicht den Beginn eines Spitzelstaates. Hier kommt offensichtlich wieder seine Ost-Biographie zum Vorschein, die es ihm als durchaus normal empfinden läßt, wenn sich der Staat bestimmter Überwachungsmethoden bedient.

Am Abend seiner Nominierung hatte er unter anderem dies gesagt:

Von all den Dingen […] ist mir am Wichtigsten, daß die Menschen in diesem Land wieder lernen, daß sie in einem guten Land leben, das sie lieben können. Weil es ihnen die wunderbaren Möglichkeiten gibt, in einem erfüllten Leben Freiheit zu etwas und für etwas zu leben. Und diese Haltung nennen wir Verantwortung.

Es sind Sätze wie diese, die zeigen, daß Gauck noch im Gestern oder sogar Vorgestern lebt. Selbst heute kann er sich noch schwindelig reden von seiner Freiheitserfahrung und möchte unbedingt andere daran teilhaben lassen. Die überwiegende Mehrzahl der Bundesbürger dürfte allerdings im Hier und Heute solide verankert sein und viele von ihnen brauchen keine Nachhilfe in Sachen Freiheit und Demokratie sondern konkrete Lösungen zur Bewältigung ihres täglichen Lebens. Verklärte Freiheitsromantiker wie Gauck finden dort keinen Platz mehr. Wenn der nächste Bundespräsident die Wende in das Realleben nicht schafft, wird er an einem Großteil des Volkes zunächst vorbeireden, um dann schließlich ignoriert zu werden. Für die jungen Erwachsenen gehört er ohnehin schon zur Opa-Generation. Sorry, Gauck. Not my President.
rh2012-02-004