Jetzt ist es amtlich oder vorläufig halbamtlich, zumindest wenn es nach dem Sinn japanischer Atomexperten geht. Die Angstformel lautet: 1 Tschernobyl = 7 INES = 1 Fukushima. Sieben INES ist dabei die höchste von insgesamt acht Stufen (die Zählung beginnt bei Null) und bedeutet das Schlimmste, was die International Nuclear and Radiological Event Scale zu bieten hat. Das Grauen hat seit Tschernobyl ein Maß bekommen. Anders als zum Beispiel bei Erdbeben, wo die Meßlatte nach oben hin offen ist und somit ausreichend Platz für noch furchtbarere zu erwartende Erdbeben bietet, wissen die Väter von INES wie groß die größte aller anzunehmenden Atom-Katastrophen sein kann, nämlich niemals größer als sieben. Dabei wird scheinbar völlig außer Acht gelassen, daß ein Erdbeben als regional isoliertes Ereignis, zunächst primär nur lokal zerstörerisch wirkt. Ein Vektor als Maß ist hier also angebracht. Hingegen wirkt eine atomare Katastrophe dieses Ausmaßes sofort international und in unterschiedlicher Intensität und zeitlicher Abfolge. Seit Tschernobyl weiß man, daß selbst die Windrichtung eine entscheidende Rolle für die Belastung der Region spielt. Der Vektor muß damit also mindestens zur zwei- oder sogar dreidimensionalen Matrix werden, je nach Gebiet und Zeit. Erst damit würde ein Maß entstehen, das dem Informationsbedürfnis der Menschen gerecht wird.
Aber auch unsere Politiker tun sich in energiepolitischen Angelegenheiten schwer aus ihrer Eindimensionalität herauszutreten. Es gibt scheinbar drei unterschiedliche Gruppen deren Größe zurzeit schwer abschätzbar ist. Da sind einerseits die Verfechter der Atomkraftwerke, die aber neuerdings einen Rückzug mit Augenmaß proklamieren, was übersetzt soviel heißt wie Finger weg von den Atomkraftwerken, ihr Ökospinner. Sie haben sich sehr komfortabel in ihrer energiepolitischen Komfortzone eingerichtet und dulden keine Störung. Häufig korrespondiert ihre versicherungsstatistische Restlaufzeit mit denen der bundesdeutschen Atommeiler vor der Laufzeitverlängerung. Der Verbleib des Atommülls ist dieser Gruppe nebensächlich bis gleichgültig, Hauptsache nicht vor der eigenen Tür.
Die zweite Gruppe scheint einer Zeitkapsel entstiegen zu sein, die Ende der siebziger Jahre in Brokdorf, Wackersdorf, Kalkar oder Krümmel verschlossen wurde. Jetzt fordern sie den sofortigen Ausstieg aus der Atomkraft. Kompromißlos, planlos, jetzt, hier und heute.
Die relevante Gruppe ist diejenige, die den schnellstmöglichen Atomausstieg plant, allerdings unter Berücksichtigung aller maßgeblichen ökologischen und ökonomischen Aspekte. Da die Atomzerstrittenheit aber bereits innerhalb der Parteien beginnt, ist es nicht einfach den einzelnen Politiker einer dieser Gruppen zuzuordnen. Wenn zum Beispiel Herr Christian Lindner vor einigen Tagen den Ausstieg der FDP aus der Atomkraft erklärte, fiel einem spontan Herr Mißfelder (neues Hüftgelenk ab 85) oder Herr Spahn (Ablehnung der Rentenerhöhung) ein. Lärm machen um Aufmerksamkeit zu erregen um dann weiter nach vorn – oder in den Fällen Mißfelder/Spahn nach oben – zu kommen, ist ein probates Mittel. Wofür Herr Chr. Lindner oder die FDP nun wirklich steht, läßt sich kurzfristig nicht klar ausmachen.
Leider ist es aber auch so, daß allen drei Gruppen eines gemeinsam ist, und hier tritt die geistige Eindimensionalität wieder an den Tag. Man ist sich völlig darüber einig, daß mit dem Ausstieg aus der Atomenergie die Strompreise deutlich steigen werden oder die Steuern, wahrscheinlich sogar beides. Noch bevor der erste Schritt getan oder ein belastbares Konzept auf dem Tisch liegt weiß man, was am Ende herauskommen wird. Frau Dr. Merkel geht sogar noch einen Schritt weiter und betont in einer Art infantilem Trotzverhalten, daß ein Ausstieg auch die Bereitschaft zu neuen und größeren Stromtrassen und Pumpspeicher(kraft)werken zur Bedingung hätte.
Der Bundesbürger hat zunächst ein Recht darauf, daß sich alle Politiker bewußt werden, daß ihre Meinung über den Atomausstieg kein fundiertes Wissen darüber ersetzen kann.
Der Bundesbürger kann weiter erwarten, daß sich die Politiker aller Parteien an die Formulierung und Unterzeichnung eines verbindlichen energiepolitischen Jahrhundertvertrags begeben. Dieser Vertrag muß von der Gemeinschaft getragen und von der jeweiligen Regierung über die Jahre gefördert werden.
Der Bundesbürger darf erwarten, daß sich kurzfristig ein partei- und lobbyunabhängiges Projektteam mit der Fragestellung beschäftigt, wie die Energiesicherung im 21. Jahrhundert gewährleistet werden kann. Die Experten sollten aus den Bereichen der betreffenden Ingenieurwissenschaften, der Mikroökonomie, Verwaltung, Recht, etc. kommen. Ausdrücklich nicht dabei sollten sein Kirchenvertreter, Gewerkschaftler, sonstige esoterische Gruppen, Volkswirte und Professoren, die zwar einen großen Namen haben aber ansonsten jedem Hirschen ein Diplom bescheinigen würden.
Erst wenn hier Ergebnisse vorliegen wie und wo Strom produziert werden soll und wie und wohin er transportiert werden muß, kann die Kostenverteilung bei vollständiger Kostentransparenz im Sinne einer Detailplanung durchgeführt werden. Und wenn es am Ende tatsächlich auf Strompreiserhöhungen hinauslaufen sollte, wird nicht einfach der Strompreis erhöht, sondern es erfolgt eine Analyse aller Transferleistungen des Staates zur Kompensation. Da zwischenzeitlich vermutlich auch die kleinste aller ostdeutschen Kleinstädte eine beleuchtete und neu gepflasterte Fußgängerzone besitzt, könnte der Solidaritätszuschlag kurzfristig umgewidmet werden. Er sollte der Entwicklung neuer regenerativer Energien dienen und würde vom Steuerzahler vielleicht wieder mit der ehemaligen Selbstverständlichkeit entrichtet werden, die längst verlorengegangen ist.
rh2011-04-002