Umweltminister Röttgen feiert den neuerlichen Atomausstieg als epochales Ereignis, so als sei die Energiewende bereits vollzogen. Schon zuvor sah Kanzlerin Merkel in ihrem vorangegangenen Ausstieg aus dem Atomausstieg ein historisches Ereignis. Doch wir stehen erst am Anfang der Energiewende und die führenden Regierungspolitiker müssen die Steine, die sie sich vor Monaten dort selbst hingelegt hatten, zunächst einmal aus dem Weg räumen. Noch bevor der letzte Lobgesang verklungen ist kommen auch schon die Kritiker aus ihren Löchern, sogar die, die zuletzt dafür waren, obwohl sie eigentlich schon immer dagegen waren. So hatte zum Beispiel der FDP-Generalsekretär Lindner in diesem Sinne überrascht. Nun aber läuft er von Tür zu Tür und äußert wieder Zweifel an der Realisierbarkeit und warnt sogar vor Schadenersatzforderungen der Energieversorger. Wäre die BRD ein Unternehmen und wäre Herr Lindner eine dort beschäftigte Führungskraft, würde er jetzt ein sehr langes und sehr einseitiges Gespräch mit seinem Vorgesetzten führen dürfen. Aber in der Politik ist eben alles etwas anders. Die Grünen wachen eifersüchtig darüber, daß ihnen ihr ureigenstes Thema, quasi ihre Daseinsberechtigung, nicht weggenommen und fremdbesetzt wird. Und die Sozis spielen in der ganzen Aufführung höchstens eine Statistenrolle, was auch sonst. Die Weltgemeinschaft schaut hingegen interessiert auf Deutschland, glaubt aber mehrheitlich nicht, daß der Atomausstieg funktionieren kann. Hierzulande wissen dagegen bereits verschiedene Institute, Fachdienste und Politiker sehr genau, aber mit unterschiedlicher Einschätzung, um wieviel EuroCent sich die deutsche Kilowattstunde Strom bis 2022 verteuern wird, präzise bis auf ein Zehntel.
Es ist genau jetzt, also am Ausgangspunkt der Energiewende, die Aufgabe der politischen Parteien einen politischen und gesellschaftlichen Konsens für die neue Energiepolitik herzustellen. Es darf nicht sein, daß die zu schaffende Energieausrichtung des Landes zerrieben wird zwischen selbstbezogenen Bundespolitikern einerseits, und Landesfürsten und Bürgerprotest Bewegungen andererseits. Was würde passieren? Ein Szenario, wenn nichts weiter in dieser Hinsicht geschieht:
- Die Bundeskanzlerin hält die Energiewende ab jetzt für einen Selbstläufer. Ohnehin kümmert sie sich lieber um die Außenpolitik. Von Zeit zu Zeit ermahnt sie inländische Bürgerproteste, die gegen Stromtrassen und Windräder zu Felde ziehen, daß der Atomausstieg nicht zum Nulltarif zu haben sei. Umweltminister Röttgen ahnt, daß es bei der nächsten Bundestagswahl eng wird für die Regierungskoalition. Nordrhein-Westfalen rückt wieder stärker ins Zentrum seines Interesses und seiner Aktivitäten. Wirtschaftsminister Rösler war und bleibt gegen den Atomausstieg. Herr Seehofer spielt mit wechselnden Standpunkten den energiepolitischen Alleinunterhalter.
- Es gelingt den Grünen den umweltpolitischen Druck bis zum Wahljahr 2013 auf der Tüte zu halten. Die Bürger hoffen, daß mit einem Regierungswechsel wieder neue Impulse in die Energiewende kommen. Die vergangenen zwei Jahre waren für die erneuerbaren Energieformen praktisch verlorene Zeit. Ab diesem Zeitpunkt werden wir es mit einer Rot-Grünen Bundesregierung zu tun haben.
- Der Regierungswechsel allein bewirkt nichts. Die Bürgerproteste halten an. Sie, die Bürger, empfinden es als ungerecht, daß in einem Teil der Republik Windparks, Stromtrassen, Castorengärten und unterirdische CO2-Seen angelegt werden sollen und andere dürfen sich an unberührten, kristallklaren Bergseen erholen. Der Zeitplan erneuerbare Energien hinkt hoffnungslos hinterher, es werden neue, völlig absurde Subventionstatbestände als Anreiz für die Energiewirtschaft geschaffen und die ersten Atomkraftwerke gehen vom Netz.
- Die wirkliche Schicksalswahl, die über die energiepolitische Zukunft des Landes entscheidet, findet aber im Jahr 2017 statt. Sie hat nur ein Thema und steht ausschließlich im Zeichen der Atomkraft. Rot-Grün glaubt noch fest an die Energiewende aber niemand glaubt mehr Rot-Grün. Die CDU/CSU und der FDP-Nachfolger (eine Mischung aus alter FDP und unabhängiger Wählervereinigung) versprechen den erneuten Ausstieg aus dem Atomausstieg und haben die Energiewirtschaft auf ihrer Seite. Jetzt auch die Wähler.
- Der Atomausstieg wird mit der Bundestagswahl 2017 für beendet erklärt. Die neue Energiepolitik orientiert sich ausschließlich noch an den gesamteuropäischen Bedürfnissen. Das Ausland fühlt sich durch das gescheiterte Energieexperiment Deutschland bestätigt.
Der Bundesbürger muß spüren, daß die Lasten der Umweltschäden (Stromtrassen, Windparks [onshore, nearshore, offshore], Pumpspeicherwerke, Gaskraftwerke, etc.), die mit der Energiewende zwangsläufig einhergehen, gerecht aufgeteilt werden. Er wird den Windpark am Rand seines Wohnorts eher akzeptieren, wenn er weiß, daß eine südliche Gemeinde dafür mit einem Pumpspeicherwerk belastet wird. In diesen Komplex sollte auch die noch ungelöste Komponente Atommüll mit einbezogen werden. Der neue Ministerpräsident aus BW, Herr Kretschmann, hatte jüngst bereits klar formuliert, daß sich auch Baden-Württemberg auf die Suche nach geeigneten Atommüllendlagern begeben wird. Herr Seehofer, Ministerpräsident aus Bayern, machte eine vergleichbare Aussage, tat dies nur etwas weniger deutlich. Gerecht wäre es zum Beispiel, wenn die Bundesregierung in Abstimmung mit den Ländern eine nichtmonetäre Umwelthypothek beschrieb, mit der die Länder belastet würden. Die Gesamthöhe der Hypothek würde sich aus dem Ersatzenergiebedarf ergeben, der durch die wegfallenden Atomkraftwerke entstünde. Heruntergebrochen würde diese Hypothek auf die Bundesländer zum Beispiel anteilig nach ihrem durchschnittlichen jährlichen Stromverbrauch. Diese Hypothek würde bedient werden mit Umweltpunkten in unterschiedlicher Höhe je nach Schadensumfang den die jeweilige Maßnahme verursacht. Beispiel: 100 Windkrafträder onshore erzielen 100 Punkte, nearshore sind es noch 60 Punkte und offshore nur noch 20 Punkte. Ein Pumpspeicherwerk oder ein Gaskraftwerk werden mit 200 Punkten gutgeschrieben. Einhundert oberirdische Kilometer Stromtrasse entlasten die Hypothek mit 50 Punkten, desgleichen unterirdisch nur mit 30 Punkten und damit genausoviel wie die Entgegennahme von einem Atommüllbehälter. Oder kurz gesagt: Je höher die subjektive Umweltunverträglichkeit der Maßnahme ausfällt, desto höher fällt auch die Punktegutschrift aus. Über diese Methode kann jedes Bundesland in einem gewissen Rahmen und unter zentraler Kontrolle seinen Energiemix mitbestimmen.
Was auch immer gemacht wird, es muß jetzt gemacht werden und es muß als Initialzündung geeignet sein. Verlieren sich die Politiker im üblichen Parteiengezänk oder machen sich wieder zum Werkzeug einzelner Interessengruppen in diesem Segment, dann werden auch die Bundesbürger die Energiewende mehrheitlich nicht mittragen. Dabei könnten im Fahrwasser der Energiewende viele neue Ideen zur Energieeinsparung entstehen. Nicht nur Ingenieure würden aktiv werden sondern auch Handwerker und Bastler würden neue Produkte und Prozesse zur Energieeinsparung vorstellen. Dies wäre ein weiterer Schritt in Sachen Energiewende unsere Gesellschaft noch ein Stück weiter nach vorne zu bringen. Hoffen wir also, daß die Wende nicht zur Halse wird.
rh2011-06-001