Piraten im Sandkasten

Der infantile Trotz, der bisher bei Herrn Westerwelle zu beobachten war, ist nun auch bei seinem Parteikollegen und Nachfolger Herrn Rösler angekommen. Der eine beharrte auf Steuersenkungen, während die Gesellschaft längst Schuldenabbau forderte. Der andere ist gegen Denkverbote in bezug auf Europa, den Euro und Griechenland, während führende Wirtschaftstheoretiker und eine breite gesellschaftliche Mehrheit bereits seit Monaten den Stop von Transferleistungen für überschuldete EU-Staaten fordern. Aber erst jetzt, kurz vor der Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses 2011, versuchte Herr Rösler, ehemaliger Stabsarzt mit abgebrochener Facharztausbildung, mit vieldeutigen Formulierungen zu erklären, daß auch er jetzt bei der Mehrheit angekommen sei. Allerdings, und unterstützt durch die Medien, gewinnt man den Eindruck er sei geradezu Begründer und gleichsam Anführer dieser mehrheitlichen Gruppe. Es ist dieses ständige argumentative zu spät kommen und der Abbruch jeglicher Kommunikation politischer Akteure, die den interessierten Wähler buchstäblich auf die Palme bringen kann.

Aber auch das selbstherrliche Handeln von CDU/CSU, zum Beispiel in Energie- und Europafragen, führt zunehmenden zum Verdruß der Wähler. Daß diese Wähler, und sogar Nichtwähler, ein Ventil für ihren Unmut suchen, zeigt sich im Ergebnis der Piratenpartei bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus 2011. Dabei hat sich fast jeder zehnte Berliner für die Piraten entschieden (8,9%) und dies beinahe einheitlich in Ost- (10,1%) und Westberlin (8,1%). Mit diesem Ergebnis konnten die Piraten aus dem Stand mit 15 Abgeordneten in das Abgeordnetenhaus von Berlin einziehen. Deutlicher kann ein Protest nicht ausfallen.

Das Grundsatzprogramm der Piraten, zumindest in der Fassung vom 21. November 2010, ist dünn. Begriffe, wie digital und Software tauchen darin ungefähr vierzigmal auf, Ökonomie und Ökologie fehlen dagegen gänzlich, wenngleich das Thema Umwelt kurz angerissen wird. Im Gegensatz zu den Grünen werden die Piraten mit ihrem monothematischen Ansatz vermutlich auf Sicht nicht reüssieren können. Die Umwelt betrifft jeden, Internet und Raubkopien aber nicht. Dennoch haben die Piraten jetzt eine einmalige Chance erhalten. Sie können in der nächsten Zeit zeigen, daß sie in der Lage sind sich zu organisieren und zu parlamentarischer Arbeit fähig sind. Sie sollten schnellstmöglich auf vielen gesellschaftlichen Themengebieten Profil gewinnen und Stellung beziehen können, damit sie aus der Ecke »irgendwas mit Internet« herauskommen. Dieses politische Experiment können die Piraten, wie in einem Sandkasten, völlig gefahrlos für die Gesellschaft durchführen. Einerseits sind sie lediglich Opposition in einem Teilzeitparlament, andererseits verfügt Berlin auch nicht über ausgeprägte Industrie- oder Handelsstrukturen, die durch Fehlentscheidungen Schaden nehmen könnten, sondern hängt praktisch vollständig am öffentlichen Tropf. Durch den Standort Berlin wird den Piraten in Zukunft ein permanenter hoher Aufmerksamkeitslevel sicher sein, höher, als dies in der Provinz möglich wäre.

Vielleicht hat die Urbanität Berlins gerade dieser Partei den nötigen Rückenwind beschert. Jedenfalls haben sie Nichtwähler mobilisieren können und sie konnten den sogenannten etablierten Parteien Wähler in nennenswerter Anzahl abwerben. Der Vorgang hat gezeigt, daß Menschen auf Politik reagieren, scheinbar auch ganz unkonventionell, und daß sich Menschen wieder oder erstmals für Politik interessieren. Es bleibt zu hoffen, daß die großen Parteien ihre Lehren aus dem Berlin Ergebnis ziehen und beweglicher werden. Andernfalls werden wir zukünftig eine mehr und mehr zergliederte Parteienlandschaft vorfinden. Das wäre dann sicher kein Demokratiegewinn.
rh2011-09-002

Kommunalwahlen Niedersachsen 2011

Carbon Dioxide Capture and StorageKommunalwahlen sind nicht annähernd so interessant wie Landtagswahlen oder Bundestagswahlen. Nach Ansicht vieler Politiker sagen die Ergebnisse von Kommunalwahlen nichts über den Verlauf zukünftiger Landtagswahlen aus, und diese wiederum seien meist auch kein Indikator für die nächste Bundestagswahl. Zumindest geben dies jene Politiker Stimmen abgebender Parteien an; die Zuwachsgewinner – das sind derzeit fast immer die Grünen – sehen dies oft genau anders herum. Wie auch immer, Kommunalwahlen werden oft ohne Getöse vergleichsweise still vollzogen. Da müssen im Vorfeld oft ein paar Beiträge in den kostenlosen Anzeigenblättern, eine handvoll Flyer und mit Kabelbindern an Laternen befestigte Pappschilder reichen. Diejenigen, die gewählt werden möchten, scheinen sich oft nicht allzuviel Mühe zu geben den Wähler zu mobilisieren.

Kommunalwahlen können dennoch interessant sein, zum Beispiel dann, wenn man in eine Region zugezogen ist und sein Umfeld noch nicht richtig kennt. Wenn man also noch nicht weiß, wie die nähere und weitere Nachbarschaft politisch tickt und ob sie überhaupt, und im welchem Maße, politisch interessiert ist. Natürlich hat man damit noch nicht den gesamten politischen Charakter der Region erfaßt, da sich Wähler manchmal regional anders entscheiden als auf Landes- oder Bundesebene. Die Kommunalwahl 2011 umfaßte hier sowohl die Kreis-, die Gemeinderats-, als auch die Ortsratswahl.

Das Land Niedersachsen bietet in erster Linie Natur und in zweiter Linie auch. Um so erstaunlicher ist es, wie die gegenwärtige politische Landschaft mit dieser Umwelt umgeht. Neben dem Dauerthema Atommüllendlager und den Agrarthemen, wie Pflanzenanbau für Biosprit und Tierzuchtanlagen in industriellem Maßstab, ist hier insbesondere das Fracking und die CO2-Verpressung zu nennen. Gegnern dieser Technologie spielt die Politik immer die Arbeitsplatz- und Gewerbesteuer-Karte aus, das sind meist untaugliche Killerargumente. Bei der Massentierzucht werden in der Regel keine inländischen Arbeitsplätze geschaffen, wie jüngst am Beispiel einiger Objekte bekannt wurde.

Wenn man nun verhindern möchte, daß im näheren Umfeld CCS (Carbon Dioxide Capture and Storage) angewandt wird, dann kann man sich nicht auf die etablierten Parteien stützen. CDU, FDP und SPD haben sogar den Einsatz dieser Technologie als ein mögliches Element des Klimaschutzes in ihr jeweiliges Parteiprogramm aufgenommen. Auf der Suche nach Gegnern dieser Technik – aber auch allen anderen Umweltfreveln – wird man wohl nur bei den regionalen Wählervereinigungen oder den Grünen fündig.

Bei den ganzen Bürger für Irgendwas Parteien ist nicht immer sofort ersichtlich, wofür sie sich einsetzen und welche Ziele sie verfolgen. Außerdem spielen sie landes- oder bundespolitisch keine Rolle, hier fehlt ihnen der große Hebel. Anders bei den Grünen. Sie sind 1980 angetreten mit den Themen Umwelt und Natur, viel belächelt, aber beharrlich und stetig wachsend. Allerdings muß man auch den Wandel dieser Partei erkennen. Während ihrer Regierungszeit mit der SPD von 1998 bis 2005 waren sie außer beim Thema Dosenpfand praktisch unsichtbar. Heute haben sie offensichtlich sogar ihre Kernthemen aufgegeben und sich von der Umweltpartei zur Spezialpartei gegen Atomkraft gewandelt. Wie könnte es sonst anders sein, daß unwidersprochen die Verspritung von Futter- und Nahrungsmitteln gestattet ist, daß Massentierzuchten entstehen können, daß Verbrennungsgase im Erdreich verpreßt werden dürfen und daß es erlaubt ist Mithilfe giftiger Substanzen Erdöl/Erdgas aus tiefen Gesteinsschichten zu gewinnen. Das Versagen der Politiker in Berlin muß dann in solchen Punkten durch lokale Bürger- und Umweltverbände aufgefangen werden.

Die Grünen sind auch bei den Kommunalwahlen in Niedersachsen die absoluten Stimmenzuwachsgewinner. Hier im Landkreis und im Gemeinderat konnten sie ihr Ergebnis im Vergleich zu den Wahlen von 2006 jeweils verdoppeln (Kreis 13,5% [7,3%], Gemeinderat 11,4% [5,7%]). Es bleibt zu hoffen, daß sie sich ihrem eigentlichen Auftrag für Umwelt und Natur wieder bewußt werden und sich zukünftig wieder stärker regional engagieren. Ob man allerdings bei einer Wahlbeteiligung von 45,6% bei einer Gemeinderatswahl (Kreis 51,6%) überhaupt noch von einer Wahl sprechen kann, darf bezweifelt werden. Es bleibt dann immer unklar, ob es sich dabei bereits um den Ausdruck eines politischen Protests oder einfacher Faulheit handelt. Wie wäre es zur Abwechslung mit einer Wahlbeteiligung von 75% und einem Anteil ungültiger Stimmen von 25 Prozent? Und sonst? Hier ist alles ziemlich rot, nur drei Kilometer weiter alles tief schwarz.
rh2011-09-001

Wellen an der Kiellinie

Wellen an der KiellinieAls Exil-Kieler verfolgt man am Rande natürlich die schleswig-holsteinische Landespolitik ein wenig mit. Schleswig-Holstein ist zwar mit Abstand das schönste Bundesland von allen, aber es ist wirtschaftlich und politisch eher unbedeutend. Gerade daher ist es interessant zu sehen, welche medienwirksamen Fehlleistungen die Landespolitiker an der Förde erzeugen können. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Partei spielt dabei offensichtlich keine Rolle, aber die Skandaldichte scheint im Norden besonders hoch zu sein.

Barschel

Man darf zum Beispiel an den Skandal Waterkantgate erinnern. Die Stichworte hierzu lauten: Barschel, Spiegel, Pfeiffer, Engholm. Dr. Uwe Barschel, der am 13. September 1987 knapp zum Ministerpräsidenten wiedergewählt wurde, sagte am Freitag darauf in einer Pressekonferenz, die deutschlandweit für erhebliches Aufsehen sorgte:

»…, gebe ich den Bürgerinnen und Bürgern des Landes Schleswig-Holsteins und der gesamten deutschen Öffentlichkeit, mein Ehrenwort – ich wiederhole – ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß die gegen mich erhobenen Vorwürfe haltlos sind.«

Genau vierzehn Tage später mußte der Ministerpräsident Dr. Barschel auf Druck seiner Partei den Hut nehmen. Ein Mann, der öffenlich sein Ehrenwort gegeben hat. Alles Weitere ist bekannt.

Engholm

Auch die Laufbahn seines Nachfolgers, Björn Engholm, nahm ein unrühmliches Ende. Offensichtlich war die zurückliegende Barschel-Pfeiffer-Affäre noch längst nicht zu den Akten gelegt worden. Sie hatte noch genug Kraft um auch Jahre später den Ministerpräsidenten Engholm aus seinem Amt zu drängen. Im Zusammenhang mit der sogenannten Schubladenaffäre wurde der Ministerpräsident der Unwahrheit überführt, und mußte im Mai 1993 von seinem Amt zurücktreten.

Simonis

Sein direkter Nachfolger, und später im Rahmen privater Fernsehauftritte als Hoppel-Heide verspottete Ex-Politikerin, wurde Heide Simonis. Frau Simonis hatte es im Grunde genommen nicht mit einem richtigen Skandal vom Format der Waterkantgate zu tun, aber auch sie erhielt im Jahr 2005 bundesweite Presse. Im Rahmen ihrer Wiederwahl trat sie im Februar in einer Montags-Talkshow der ARD auf und antwortete auf die Frage nach ihrer politischen Zukunft im Falle einer großen Koalition im Kieler Landtag:

»Und wo bleibe ich dabei?«

Nie zuvor hat ein Politiker so spontan, direkt, mit klarer Formulierung und tiefgründiger Ehrlichkeit zugegeben, daß ihm seine persönliche Zukunft wichtiger sei, als das Wohl des Landes und seiner Bevölkerung. Dazu paßt dann auch das Bild, daß sie am 17. März 2005 im Kieler Landtag von sich abgegeben hat. In vier Wahlgängen versuchte sie die Mehrheit, die für das erneute Entern des MP-Stuhls erforderlich gewesen wäre, zu erzwingen. Viermal jedoch ließ sie jemand aus ihrer Partei am ausgestreckten Arm verhungern. Der Unbekannte wurde später verächtlich der Heide-Mörder genannt.

Carstensen

Ihr Nachfolger, Peter Harry Carstensen, öffentlich meist mit vertauschten Vornamen angesprochen, hatte keine Skandale, aber er hatte auch keine öffentliche Aufmerksamkeit. Mit einer kleinen Ausnahme. Er versuchte gleich zu Beginn seiner Amtszeit über die Bild-Zeitung eine Sozialpartnerin für sich zu finden, was er allerdings später wohl bereute. Ansonsten fand Herr Carstensen südlich der Elbe oder in den einschlägigen Polit-Talkshows nicht statt.

von Boetticher

Noch bevor Betulichkeit in Schläfrig-Holstein wieder einziehen konnte, erregt nun ein neuer Skandal, wiederum mit bundesweiter Beachtung, die Menschen. Auslöser ist diesmal der CDU-Spitzenkandidat Dr. Christian von Boetticher, der nach den Vorstellungen der CDU im kommenden Jahr zum Ministerpräsidenten des Landes gewählt werden sollte. Der Kandidat gestand auf einer Pressekonferenz sehr emotionsgeladen seine kurze, aber, nach eigenen Worten, sehr intensive Beziehung zu einer damals Sechzehnjährigen aus Nordrhein-Westfalen Anfang 2010. Bereits nach wenigen Monaten beendete er das Verhältnis wieder, da es seiner weiteren Karriere abträglich geworden wäre. Er wurde seinerzeit parteiintern zum Nachfolger von Peter Harry Carstensen auserkoren.

Heute, gut ein Jahr später und nur neun Monate vor den nächsten Landtagswahlen, beschließt die SH CDU, daß Herr von Boetticher von allen Ämtern zurücktreten soll, da sein Verhalten, das übrigens nicht justiziabel ist, gesellschaftlich keine Akzeptanz finden würde. Diese Entscheidung führte zum besagten Presseauftritt. Einen Beschluß mit derartiger Begründung würde man üblicherweise in Regionen mit überwiegend katholischem Bevölkerungsanteil verorten. Aber das trifft auf Schleswig-Holstein nun gar nicht zu. Ist die Gesellschaft, die tagtäglich mit den unterschiedlichsten Lebensmodellen konfrontiert wird, nicht viel weiter als die Landes-CDU? Man könnte sich zwar fragen, wie ein Vierzigjähriger strukturiert sein mag, der eine Beziehung zu einer minderjährigen jungen Dame unterhält. Aber deswegen muß er ja kein schlechter Politiker sein. So ganz nimmt man der CDU die Begründung nicht ab. Oder gab es am Ende doch Zweifel an der politischen Eignung des Kandidaten? Im Ergebnis, nicht aber in der Beurteilung, hat die CDU Schleswig-Holsteins dennoch richtig gehandelt. Ein Mensch, der seine große Liebe der eigenen Karriere wegen opfert, dem fehlt die charakterliche Eignung für ein höheres politisches Amt.
rh2011-08-005

Jenseits des Euros

Jenseits des EurosDer Präsident der europäischen Kommission, José Manuel Durão Barroso, ausgestattet mit einer hohen fachlichen Kompetenz in Sachen Politik und Wirtschaft, und einem echten Interesse an einem stabilen und prosperierenden Europa, tat seinen Job bisher, soweit zu erkennen war, souverän und ohne affektierte Eitelkeit, die sonst bei nationalen Politikern so häufig zu beobachten ist. Bei öffentlichen Auftritten formuliert er klar und präzise, was er denkt und was er zu tun gedenkt. Raum für Mißverständnisse konnte sich so meist nicht bilden. Und nun das. Mit seinem Brief vom 3. August 2011 an die siebzehn Staats- und Regierungschefs der Euro-Inhaber-Länder hat er nicht nur bei den nationalen Parlamenten und Parteien Irritation und Fassungslosigkeit ausgelöst, auch die Finanzbranche ist desorientiert, und Millionen privater Geldanleger sind einmal mehr in großer Sorge um den Wert ihrer Ersparnisse.

Noch vor 14 Tagen gab sich dieser Kommissionspräsident öffentlich zufrieden mit dem Ergebnis des vorläufig letzten, eilig einberufenen Sondergipfels zur Rettung des Euros am 21. Juli 2011. Es sei, so seine Formulierung, ein »glaubwürdiges Paket« geschnürt worden, und sagte wörtlich:

»Ladies and Gentlemen,
we needed a credible package,
we have a credible package.«

Heute klingt alles ganz anders. Plötzlich ist das vor wenigen Tagen erreichte nicht mehr genug. In diesen wenigen Tagen hat sich allerdings nichts Entscheidendes verändert. Griechenland ist völlig pleite und liegt komatös auf der Intensivstation. Irland und Portugal liegen nur zwei Betten weiter, sind aber noch ansprechbar. Italien und Spanien haben längst ihre schwere Diagnose erhalten und bereiten sich auf den Gang ins Krankenhaus vor. Zypern wird wahrscheinlich aufgrund einer beschädigten Stromversorgung implodieren. Die Finanzsituation der USA ist ein Fiasko, die neuesten Arbeitsmarktzahlen möchte man gar nicht erfahren, und China bekommt seine Inflation nicht in den Griff. Aber sonst ist eigentlich alles in Ordnung oder weiß Herr Barroso mehr?

In seinem als Brandbrief bezeichneten Schreiben an die siebzehn Staats- und Regierungschefs bezeichnet er die Entwicklung der Anleihemärkte in Italien, Spanien und weiteren Euro-Mitgliedsstaaten als zutiefst besorgniserregend. Ferner stellt er fest, daß die mutigen Entscheidungen vom 21. Juli 2011 nicht die gewünschte Wirkung auf die Märkte zeigen. Neben den Gründen des Scheiterns, wie globale wirtschaftliche Unsicherheit, sieht er an erster und wichtigster Stelle die Komplexität und Unvollständigkeit des Juli-Pakets und die undisziplinierte Kommunikation im Umgang mit diesem Paket. Die Krise erstrecke sich auch nicht mehr ausschließlich auf den Rand der Eurozone. Barroso bittet in seinem Brief die Parlamente der Länder um eine beschleunigte Abwicklung der Genehmigungverfahren der EFSF-Darlehen.

In einem entscheidenden Punkt seines Briefes läßt Herr Barroso es leider an Deutlichkeit fehlen. Darin bittet er um eine zügige Neubewertung aller Elemente, die im Zusammenhang mit EFSF/ESM stehen, um sicherzustellen, daß sie bei einer Ansteckung auch wirken:

»I also take the opportunity to urge a rapid re-assessment of all elements related to the EFSF, and concomitantly the ESM, in order to ensure that they are equipped with the means for dealing with contagious risk.«

Erst eine Sprecherin der europäischen Kommission machte auf Anfrage klar:

»When he speaks about all elements it means all elements, and all elements may well include the size.«

Mit anderen Worten, es soll auch noch einmal die Größe des Euro-Rettungsschirms, der gegenwärtig 440 Milliarden Euro umfaßt, überprüft werden.

Außer in den eigenen Reihen hat Herr Barroso keinerlei Zustimmung zu seiner Briefaktion erhalten. Sogar die Börsen haben regiert, allerdings negativ. Dabei ist es doch Allgemeingut, daß Börse und Kapitalmärkte sehr viel mit Psychologie zu tun haben. Dies scheint jedoch noch nicht zu Herrn Barroso vorgedrungen zu sein. Offensichtlich hat er geglaubt, daß ein bunter Haufen Staats- und Regierungschefs, die alle in hohem Maße auch nationalen Interessen folgen, die Finanzmärkte durch ein mit heißer Nadel gestricktes Kompromißpapier nachhaltig beruhigen kann. Diese Fehleinschätzung beunruhigt weit mehr, als die Tatsache, daß die Kapitalbeschaffungszinsen für Italien und Spanien in den letzten Tagen weniger als erhofft gesunken sind. Herr Barroso beklagt in seinem Schreiben, daß die disziplinlose Kommunikation rund um das Rettungspaket ein wichtiger Faktor seiner Wirkungslosigkeit war. Mit seinem Schreiben aber reiht er sich nun ein in die Schlange der Undisziplinierten.

Am Ende bleibt die Frage, was Herrn Barroso verleitet hat diesen Brief zu schreiben. Sicher nicht, um sich von einem Sprecher des deutschen Finanzministeriums abkanzeln zu lassen. Oder weiß er mehr, als unsere Regierungsvertreter sich trauen uns mitzuteilen und sind wir schon längst jenseits des Euros? Das wäre in der heutigen Zeit und der Informationsdichte über die wir verfügen eher unwahrscheinlich. Vielleicht war es nur eine einfache Form der Dummheit. Wenn da nicht Herr Trichet, oberster Boß der EZB, zeitgleich und regelwidrig wieder damit begonnen hätte Staatsanleihen zur Stützung der Euro-Länder aufzukaufen. Ist also doch etwas faul im Euroland? In Demokratien brauchen Entscheidungsprozesse ihre Zeit, so wie die darauf folgenden Wirkprozesse ihre Zeit brauchen. Dann ist es geradezu kontraproduktiv planlos am Ruder zu zerren, da man sich damit selbst der Chance beraubt zu erkennen, welche Maßnahmen wirken und welche nutzlos sind. Dann ist es einfach besser die Füße still und mal die Klappe zu halten.
rh2011-08-003