Jürgens Rückfahrt, Björnsen winkt

Jürgen hatte sich auf der Suche nach seinem Wunschfahrzeug von dem Starverkäufer Marc (wir berichteten) verabschieden müssen, da Marc offensichtlich ein gestörtes Verhältnis zu Kunden im allgemeinen und seinem Job als Automobilverkäufer im besonderen hat. Bevor sich Jürgen bei seiner Autosuche nun gänzlich auf das Internet stützen würde, kontaktierte er noch ein Autohaus der von ihm favorisierten Marke in der benachbarten Kreisstadt. Dort hätte man, so beschied ihm ein Branchenkollege von Marc am Telefon, sein Wunschfahrzeug zwar nicht vorrätig, aber ein Kundenfahrzeug, das kurz vor der Auslieferung stünde, sei zu besichtigen.

Drei Stunden später stand Jürgen auf dem Hof des Händlers, begann das Fahrzeug gemessenen Schrittes zu umrunden und fand sich schließlich in seiner Wahl bestätigt. Ihm reichte die Papierform des Fahrzeugs, Probefahrt oder Sitzprobe sind seiner Meinung nach nur etwas für Unentschlossene. Drei Minuten später stand er in der Tür seines Gesprächspartners vom Vormittag. Er wußte mittlerweile, daß die Starverkäufer dieser asiatischen Importmarke sich nicht erheben würden, wenn ein Kunde den Raum betritt. Im Gegenteil, sie lehnen sich in ihren rückenschonenden Bürostühlen zurück, verschränken die Hände hinter ihren Köpfen und mustern den Kunden zunächst mit einer Peilung über den Brillenrand. Das ganze scheint einem fernöstlichen Verhaltenscodex für Verkäufer zu folgen, der möglicherweise Freundlichkeit, Zuneigung und Wertschätzung gegenüber dem Kunden zum Ausdruck bringen soll.

Der Verkäufer hatte den Oberkörper zwischenzeitlich wieder in eine annähernd senkrechte Position gebracht. Er erklärte Jürgen, daß er das Fahrzeug für einen Kunden bei einem befreundeten Markenhändler aufgetrieben habe. Er würde sich aber nicht trauen diesen Händlerkollegen ein zweites mal um einen Gefallen zu bitten. Jürgen hatte verstanden. Er ersparte sich den Vorschlag noch andere Händler abzufragen, die vielleicht sein Fahrzeug schon in der Pipeline hätten und bereit wären es abzugeben. Für diesen namenlosen Verkäufer war der Vorgang längst abgeschlossen. Er hatte, vermutlich unter Mobilisierung sämtlicher Kräfte, ein Fahrzeug verkauft und mußte sich nun erst einmal regenerieren.

Jürgen war also auf ganzer Linie gescheitert. In völliger Fehleinschätzung des Marktes hatte er sein Fahrzeug zwar ganz erfolgreich aber vorschnell verkauft. Nun war er auf einen teuren Leihwagen angewiesen oder er fand selbst sehr schnell sein Wunschauto. Das Internet war sein Freund. Nach nur zwei Telefongesprächen war man sich bereits handelseinig. Das Autohaus Drei Könige – so soll es hier heißen – versprach Lieferfähigkeit. Der überaus freundliche Spitzenverkäufer und Junior-Geschäftsführer in Personalunion – nennen wir ihn Björnsen – konnte Jürgen Hoffnung machen. Zwar stünde sein Fahrzeug noch nicht auf dem Hof, aber es sei schon sehr weit in der Rangliste vorgerückt. Man einigte sich auf ca. zwei bis drei Wochen Lieferzeit.

Jürgens Rückfahrt
Jürgen läßt schalten
Nach zwei Wochen rief der deutsche Importeuer der Automarke an, genauer eine junge Dame in dessen Vertretung. Sie bezog sich auf eine Anfrage, die Jürgen gestellt hatte. Jürgen war irritiert. Er habe, so die junge Frau, vor ungefähr sieben Wochen über die Web-Präsenz des Importeurs eine technische Anfrage gestellt und um dessen Beantwortung würde es jetzt gehen. Jürgen dämmerte es. Sieben Wochen, ja, das kann sein. Langsam erinnerte er sich sogar auch wieder an die Fragen, die er formuliert hatte. War irgendwas mit CO2-Emission, Leistung und Automatikgetriebe und so. Jetzt war wieder alles da. Allerdings hatte er sich die passenden Antworten längst selbst aus dem Internet besorgt. Er wußte seit langem, daß die Schwarmintelligenz des Internets meist wertvoller ist als das Halbwissen des Einzelnen. Dies schon zu einer Zeit, als CSU-Politiker im Internet noch den Ort des Bösen vermuteten. Aber auch die Anhänger der Christlich Sozialen Union entwickeln sich weiter. Heute wissen sie, daß im Internet das Böse lauert, weshalb sie jetzt auch ständig sogenannte Bundestrojaner verschicken um dem Bösen Einhalt zu gebieten.

Nach weiteren drei Wochen, also eigentlich zwei Wochen zu spät, meldete sich das freundliche Autohaus Drei Könige, Herr Björnsen am Apparat. Jürgens Auto sei eingetroffen und könne in drei Tagen abgeholt werden. Jürgens Freude war groß. Zwischenzeitlich hatten sich bei ihm noch sieben oder acht weitere technische Fragen ergeben, die er Björnsen zur Beantwortung per E-Mail zukommen ließ.

Am Tag der Abholung stand Jürgen pünktlich um 12 Uhr beim Autohaus Drei Könige auf der Matte. Vor dem Entrée war bereits sein Fahrzeug mit dem Schild dieses Fahrzeug ist verkauft geparkt. Eine nette Geste. Björnsen erwartete ihn schon. Nachdem die Höflichkeiten ausgetauscht und die Grundformalitäten erledigt waren, legte Björnsen ihm eine Verpflichtungserklärung zwecks Kopiegabe von Kfz-Brief und -Schein nach der Zulassung zur Unterschrift vor. Björnsen nutzte Jürgens kurze Verdutztheit und schob hinterher, daß der Importeuer grundsätzlich von allen neu zugelassenen Fahrzeugen eine Kopie dieser Fahrzeugunterlagen fordere. Normalerweise würden die Kunden davon ja gar nichts mitbekommen, aber da Jürgen das Fahrzeug an seinem Heimatort zulassen würde, bräuchte er die nachgereichten Kopien von Jürgen. Dazu diene dann eben die schriftliche Verpflichtung. Jürgen begann tief Luft zu holen und legte sich gerade die Stichworte rund um Vertragsrecht, Datenschutz und Kundenorientierung für seinen nun drohenden Vortrag zurecht, da legte Björnsen abermals nach: »Die werden echt sauer, wenn sie die Unterlagen nicht bekommen.« In diesem Moment atmete Jürgen ebenso tief aus, wie er zuvor eingeatmet hatte und sagte nur: »Okay«. Jürgen hatte an diesem Tag gute Laune und eine scheinbar unendliche Geduld. Zwei Eigenschaften, die er in dieser Kombination und Intensität an sich selbst gar nicht kannte. Björnsen war das Opfer und natürlich würde er wie immer dem Schwächeren zur Seite stehen.

Erneut wurde Jürgens Geduldpotential auf die Probe gestellt. Björnsen sagte zu ihm: »Sie hatten mir vor drei Tagen ein paar Fragen zugemailt. Ich will mal sehen, welche ich davon beantworten kann.« Jürgen konnte den Gallenfluß in ihm gerade noch erfolgreich unterdrücken. Er wußte, daß Björnsen keine Antworten liefern würde. Der Verkäufer hatte den Empfang des Fragenkatalogs nicht als Auftrag zur Beschaffung von Antworten aufgefaßt, sondern fühlte sich wohl eher als Teil einer Quizshow in der er ohne fremde Hilfe Fragen beantworten sollte. Was würde wohl geschehen, so fragte sich Jürgen, wenn Björnsen Mitglied einer Projektgruppe in einem mittelständischen Unternehmen wäre. Er würde in diesem Moment vermutlich ein sehr einseitiges Gespräch mit dem Projektleiter und anschließend mit seinem Vorgesetzten erleben dürfen.

Die Übergabe des Fahrzeugs und die Montage der Überführungskennzeichen liefen recht zügig ab. Björnsen war offensichtlich mit sich sehr zufrieden, denn die Verärgerung seines Kunden hatte er gar nicht bemerkt. Jürgen bestieg erstmals sein neues Auto, startete den Motor, legte den Wahlhebel des Automatikgetriebes auf Stellung D und verließ das Autohaus Drei Könige mit Kurs West-Süd-West. Björnsen winkte.

In die Freude über sein neues Auto mischte sich Skepsis. Hatte er sich für die richtige Marke entschieden? Bisher traf er nur auf merkwürdige Typen.

  • Der Powerseller Marc, der am liebsten die kleinen Volumenmodelle auf seinem Hof verkauft. Das ist für ihn wie Fließbandarbeit bei der er sich keine Gedanken um Kunden und Märkte machen muß. Der auch gerne auf ein Geschäft verzichtet, wenn der Kunde nicht in sein System paßt.
  • Der Verkäufer ohne Namen, dessen Angst vor dem Unmut seiner Händlerkollegen größer ist als der natürliche Jagdinstinkt eines Verkäufers mit dem unbedingten Willen zum Abschluß und zur Neukundengewinnung.
  • Der Deutschland Importeur, der über sechs Wochen zur Beantwortung einer handvoll Fragen benötigt und der Zulassungsdaten seiner Fahrzeugkäufer sammelt, ohne daß diese davon Kenntnis erlangen.
  • Der Junior-Verkäufer und Mitgeschäftsführer, vermutlich ein ehemaliger Waldorfschüler, der wohl seinen Namen tanzen kann aber von Autos und Kunden keine Ahnung hat.

Jürgen grauste es bei der Vorstellung sein Fahrzeug in eine dieser Werkstätten bringen zu müssen, aber das würde unausweichlich sein. Wer würde dann an seinem Auto herumschrauben? Ein ehemaliger Schuhverkäufer oder eine umgelernte Fleischereifachverkäuferin? Bisher hatte er den Eindruck auf eine große Laienspielschar gestoßen zu sein. Er versuchte nun all diese dunklen Gedanken zu verdrängen. Er fuhr der untergehenden Februarsonne entgegen und fragte sich dabei welche Anforderungen der Konsument des 21. Jahrhunderts an die Qualität von Produkten und Dienstleistungen zukünftig wird stellen dürfen.
rh2012-02-003